Jedes Leben hat seine Geschichte

  • Sie war eine Dame...

    Sie war eine Dame, gebeugt vom Alter, mit Falten im Gesicht, die das Leben geschrieben hatte. Ihre Stimme immer noch resolut, immer noch bereit, sie dem Leben entgegen zu setzen. Es war nicht immer freundlich mit ihr umgegangen, dieses Leben. Der Zweite Weltkrieg, die Flucht aus der Heimat, als sie noch Kind war, die Kälte, die Entbehrungen, die Angst, die Not. Der Krieg hatte sie beendet, ihre unbeschwerte Kindheit in diesem kleinen Dorf, das man heute in Polen wiederfindet. Sie hatten alles zurücklassen müssen, die Kühe, die Schweine, die kleine Landwirtschaft ihrer Eltern, und auch den Großvater, der die Tiere nicht alleine lassen wollte. Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört, und den Hof Jahrzehnte später nicht mehr wiedergefunden, als sie mit ihrem Mann die alte Heimat nochmals besuchte.

    Sie wollte ihm zeigen, wo sie als Kind gelebt hatte. Die alte Schule stand noch am gewohnten Platz, auch das Haus der Schulfreundin, und der kleine Fluss plätscherte wie eh und je lustig vor sich hin. Aber ihr Elternhaus mit dem schrägen roten Dach und den weißgetünchten Wänden war verschwunden. Sie war verloren, ihre Kindheit, bereits in dem Moment, als sie ihre geliebte Katze zurücklassen musste, nur ihre Puppe mitnehmen konnte, an die sie sich während der Flucht geklammert hatte, wie an eine Hoffnung, dass das alles vielleicht doch gar nicht wahr wäre, sondern ein böser Traum, aus dem man irgendwann erwachen konnte.

  • Mit ihm war Lachen leicht...

    Mit ihm war Lachen leicht. Immer ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht, einen flotten Spruch auf den Lippen, einen Witz parat, mit dem er die gefährlichen Untiefen des Lebens übersprang. Er wusste, wo die Freude wohnte und wie man das Leben zu einem kleinen Fest machen konnte.

    Eine Einladung von ihm bedeutete ein liebevoll gedeckter Tisch und ein Fünf-Gänge-Menü, für das er den ganzen Tag in der Küche gewirbelt hatte, viele kleine Köstlichkeiten, nur für die geladenen Gäste ausgedacht und zubereitet. Er brauchte kein Kochbuch. Er brauchte nur eine Idee, eine Vorstellung oder einen Wunsch. Es gab vielleicht kein schöneres Geburtstagsgeschenk, als ein Essen aus seiner Küche. Eigentlich schenkte er seinem Mann kaum etwas anderes zum Geburtstag, und mit einem Essen, meist dem Asiatischen Raum entlehnt, feierten sie ihren Jahrestag, denn damit hatte alles begonnen.

    Sie hatten sich auf einer Feier bei Freunden kennen gelernt. Den ganzen Abend füllte er mit Gesprächen über Kochen und Gewürze, Themen, die bei ihm immer Anklang fanden. Als Sie ihn fragten, ob er denn tatsächlich so viel von der Zubereitung von Essen verstehen würde, wo er doch nicht Koch, sondern offensichtlich Automechaniker gelernt hatte, nahm er den Federhandschuh auf, den Sie ihm hinwarfen und lud Sie mit einem verschmitzten Lächeln zu einer kulinarischen Herausforderung bei sich zu Hause ein, setzte sogar noch einen drauf: Sie sollten sich die Länder wünschen, aus denen er dann Gerichte kochen würde. Ihre Wahl fiel auf Griechenland und Japan, und es wurde für Sie beide nicht nur aufgrund seiner Kochkünste ein unvergesslicher Abend.

  • Sie war ein Unikum, eine einzigartige Persönlichkeit...

    Sie war ein Unikum, eine einzigartige Persönlichkeit. In ihr verkörperte sich so viel Unterschiedliches, das sich allein schon in der Musikauswahl für heute ausdrückt, die sie sich selbst gewünscht hatte: Das „Nessum Dorma“ von Manowar.

    Sie war ein Mensch mit Gegensätzen, in sich vereint. Flippig gekleidet, die Haare mal schulterlang und blond, mal kurzgeschoren und rabenschwarz, mit einer einzigen langen Strähne in Pink. Ihre zahlreichen Ohrringe, aufgereiht am rechten Ohr, wechselten gerne mal Form und Farbe.

    Der perfekt gedeckte Tisch lud Gäste ein, es sich gemütlich zu machen, zwischen altem Porzellan, von ihrer Großmutter geerbt, und Gläsern in unterschiedlichsten Formen und Farben, wild zusammengestellt. Keines glich dem anderen, und doch bildete alles zusammen ein perfektes Arrangement aus Alt und Neu, aus Form und Farbe. Mit zahlreichen Kerzen – die mussten sein, da ging kein Weg dran vorbei – ließ sie die gesamte Wohnung erstrahlen und zauberte eine gewisse Gemütlichkeit, die für sie so typisch war.

    Sie war direkt und doch diskret, war offen und doch verschwiegen, wollte Frieden in ihrem Leben und konnte doch innerhalb von kürzester Zeit aufbrausend reagieren, wenn sie Ungerechtigkeit vermutete. Sie vereinte Gegensätze, wie kaum eine andere, und gerade das machte sie so liebenswert, so menschlich.

    Sie wusste, dass sie sterben würde. Lange bevor die Freunde es realisierten war ihr klar, dass sie diesen Kampf gegen den Krebs nicht gewinnen konnte. Sie lebte ihr Leben selbstbestimmt, immer schon, und wollte diese Freiheit auch zuletzt nicht aufgeben. Sie suchte sich diesen Sarg aus, den Sie hier stehen sehen. Weiß, nicht wie die Unschuld, oder vielleicht doch wie die Unschuld, denn der Tod wäscht alles von einem ab. Nicht nur das gelebte Leben, sondern auch diese Krankheit, auch den sie stetig begleitenden Schmerz. Es blieb im Ende ihre Entscheidung, nicht auf einer Palliativstation zu sterben, sondern in ihrer gemütlichen Wohnung, zwischen ihren zahlreichen Blumen, den Kerzen, dem Nippes, der scheinbar irgendwo seinen Platz gefunden hatte, und doch jedes Stück einzeln mit viel Liebe und Sorgfalt ausgesucht war.

    Sie hatte sich entschieden, das Leben noch ein letztes Mal mit Ihnen zu feiern, mit einigen Flaschen Prosecco Rosé, ihrem Kultgetränk, und ihren besten Freundinnen, um sich dann würdevoll daraus zu verabschieden.

    Sie hatte sich gewünscht, dass wir heute nicht ausschließlich ihren Tod betrauern, sondern das Leben noch einmal feiern, das sie mit Ihnen zusammen gelebt hat, uns an das Viele erinnern, das sie geliebt, und die Lieder anhören, die sie selbst für heute ausgesucht hat, um Ihnen ihre eigene kleine Botschaft vermitteln zu können: Das Leben ist schön.